Humboldt-Universität zu Berlin - Integrative Research Institute Law & Society (LSI)

Humboldt-Universität zu Berlin | Juristische Fakultät | Integrative Research Institute Law & Society (LSI) | Personen | Wissenschaftliche Mitarbeiter:innen | Valentin Feneberg, M.A. | Die Heimat der Anderen. Herkunftslandinformationen in asylgerichtlichen Verfahren in Deutschland

Die Heimat der Anderen. Herkunftslandinformationen in asylgerichtlichen Verfahren in Deutschland

 

„Der Wirklichkeitsnachbau des Rechts ist defizitär.“ (Rainald Goetz)

 

Asylverfahren sind voller Wissenslücken: Zuverlässige Informationen aus totalitären oder volatilen Staaten sind schwer zu beschaffen und die Asylentscheidung ist eine Risikoprognose über eine unvermeidbar unsichere Zukunft. Wie Verwaltungsrichter:innen angesichts dieser empirischen und prognostischen Unsicherheiten die Realität in Herkunftsstaaten entscheidungsfest konstruieren, ist Thema des Forschungsprojekts. Dazu folge ich dem Weg der Herkunftslandinformationen vor Gericht von ihrer Ermittlung bis zu ihrer Verwendung in Urteilstexten.


Laut Amtsermittlungsgrundsatz müssen Richter:innen den Sachverhalt „erforschen“ (§ 86 Abs. 1 VwGO). Sie entscheiden also nicht nur Fälle, sondern generieren auch Wissen. Im ersten Schritt analysiere ich die Ermittlung von Herkunftslandinformationen an Gerichten und wie Richter:innen sich die für die Entscheidung notwendige Überzeugung bilden. Anhand von 40 Interviews mit Richter:innen und ihren Dokumentationsstellen veranschauliche ich so die vielfältige Umsetzung des Amtsermittlungsgrundsatzes und die Strategien, mit der die Richter:innen Informationsflut und Beweisnot gleichermaßen bewältigen.


Ausgehend von einer Theorie der Ko-Konstitution von Recht und Tatsachen untersuche ich im zweiten Schritt die Realitätskonstruktion in Entscheidungsbegründungen. Fallbeispiele sind die Rechtsprechung erstens zu syrischen Militärdienstverweigerern und zweitens zu Geflüchteten aus Afghanistan, für die festgestellt werden muss, ob bei ihrer Rückkehr eine lebensbedrohliche humanitäre Notlage droht. Dabei ist jeweils die Bewertung fallübergreifenden Lage im Herkunftsstaat entscheidend, der Einzelfall tritt in den Hintergrund. Auf Basis der gleichen Herkunftslandinformationen bewerten die Gerichte diese Lage uneinheitlich. Ich zeige, dass diese divergierenden Wirklichkeitskonstruktionen auf unterschiedlichen Deutungsmustern und Erfahrungssätzen beruhen, mit denen die Gerichte ihre Wissenslücken zu den Verfolgermotiven (Syrien) und zur Verelendungsgefahr (Afghanistan) überbrücken und wie diese Muster die Rekontextualisierung von Herkunftslandinformationen in den Urteilstexten beeinflussen. Während bei Syrien Deutungsmuster zum Charakter des Staates entscheidend sind, geht es bei Afghanistan um solche zum Charakter der (durch die Covid-19-Pandemie verstärkten) humanitären Krise.


Auf dieser Grundlage diskutiere ich kritisch die unterschiedliche Verwendung der gleichen Herkunftslandinformationen in Asylverfahren und analysiere die Rolle der Gerichte als wissensproduzierende, wissensverarbeitende und rechtsprechende Institutionen im Asylregime.