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DIE UNEINGELÖSTEN VERSPRECHUNGEN DES RECHTS IM ZUSAMMENHANG MIT DEM „NSU“-KOMPLEX – EIN BERICHT ZUM THEMENSTRANG „DIE VERSPRECHUNGEN DES STRAFPROZESSES: FUNKTIONEN, ERWARTUNGEN, UND REALITÄTEN AM BEISPIEL DES NSI-PROZESSES“

 

Lina Henzel

Die uneingelösten Versprechungen des Rechts im Zusammenhang mit dem „NSU“-Komplex

Lina Henzel

Der dritte Kongress der deutschsprachigen Rechtssoziologie-Vereinigungen vom 09.- 11. September 2015 in Berlin widmete sich den Versprechungen des Rechts. In einem track wurden die Versprechen des Strafprozesses in Hinblick auf das seit Mai 2013 vor dem Oberlandesgericht München stattfindende „NSU-Verfahren“ diskutiert, auch andere „Versprechungen des Rechts“ im Zusammenhang mit dem „NSU“- Komplex und dessen Aufarbeitung wurden thematisiert. Dabei wurden immer wieder die gebrochenen Versprechungen deutlich, die ich mit diesem Beitrag zusammenfassen möchte. Abschließend möchte ich aus den Erkenntnissen des tracks mögliche Umgangsformen mit den gebrochenen Versprechungen aufzeigen.

Zwar fordern die Opfer des „NSU“ und ihre Angehörigen weiterhin eine umfassende Aufklärung des „NSU“-Komplexes, möchten die mögliche Beteiligung bzw. Mitwisserschaft staatlicher Behörden sichtbar machen und den selbst erlebten Rassismus aufgearbeitet sehen. Ihre Anwält_innen werden nicht müde, Beweisanträge zu stellen, Dokumente auszuwerten und Berichte zu verfassen. Jedoch erhärtet sich bei einigen Verfahrensbeteiligten der Eindruck, der Prozess ziele lediglich auf den Nachweis der Schuld der fünf Angeklagten ab und der „NSU“- Komplex solle historisiert werden.

Grundsätzlich verfolgt der Strafprozess das Ziel, den staatlichen Strafanspruch durchzusetzen (vgl. Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats des BVerfG vom 06.04.1999). Eine Dimension staatlichen Strafens ist die Wiederherstellung von Gerechtigkeit. Der Staat soll nach Feststellung der Schuld der Angeklagten strafen, dadurch soll – zumindest ein bisschen – Gerechtigkeit wiederhergestellt werden. Doch darüber hinaus verspricht das Recht mehr, was gerade im Hinblick auf den „NSU“-Komplex und die Forderungen der Nebenkläger_innen und ihrer Vertreter_innen Bedeutung hat.

Das gebrochene Versprechen der Sicherheit

Der Staat hat nicht nur die Pflicht, das menschliche Leben zu schützen, er muss auch erkennbare unmittelbare Gefahren für das Leben abwenden und schwere Straftaten gegen das Leben aufklären.

Dieses Versprechen scheint im Hinblick auf den NSU gebrochen. Im track kam zur Sprache, dass trotz des Einsatzes von geschätzt bis zu 42 V-Personen unterschiedlicher Geheimdienste im Umfeld des „NSU“ es den Sicherheitsbehörden und ihren entlohnten Spitzeln mehr als ein Jahrzehnt lang nicht gelungen ist, die vermutlich rassistisch motiviert mordenden Täter_innen ausfindig zu machen und zu belangen. Der Staat hat gegenüber den migrantisierten Opfern das Versprechen

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der Sicherheit gebrochen, an der Rechtsstaatlichkeit des Einsatzes der V-Personen wurde von den Vortragenden gezweifelt.

Das gebrochene Versprechen der Aufklärung

Neben den unterschiedlichen Untersuchungsausschüssen soll auch das Strafverfahren einen Beitrag zur Aufklärung des Sachverhalts leisten. Denn bevor die Schuld oder Unschuld der Angeklagten festgestellt werden kann, müssen Beweise erhoben und gewürdigt werden. Im Falle des „NSU“-Komplexes wurde von den im track Vortragenden kritisiert, dass zu wenig strukturelle Ermittlungen im Umfeld des „NSU“ stattfanden, sich die Bundesanwaltschaft zu früh auf die These von drei Einzeltäter_innen festgelegt habe und die Rolle staatlicher Behörden im Verfahren kaum thematisiert wird. Bis heute ist unklar, wie viele Personen mit welchen Unterstützungshandlungen oder möglichen Tatbeiträgen dem „NSU“ zuzurechnen sind. Eine umfassende Aufklärung ist aber unerlässlich, einerseits um allen Involvierten bestrafen zu können, andererseits aber auch um Strukturen aufzudecken, die den „NSU“ erst ermöglicht haben. Darüber hinaus wird das Verfahren Einfluss darauf nehmen, wie zukünftig gesellschaftlich über den „NSU“ verhandelt wird.

Das gebrochene Versprechen der Aufarbeitung

Das Versprechen der Aufarbeitung ist ein politisches Versprechen, steht aber auch im Zusammenhang mit dem Recht. Die geplante Änderung des Bundesverfassungsschutzgesetzes sieht vor allem mehr Zusammenarbeit und mehr Mitarbeiter_innen für die Geheimdienste vor. Im track wird diese Reaktion als unangemessen gerügt. Die politische Konsequenz erscheint viel mehr als eine Adaption der Narrationen von angeblichen „Fehlern“ und „Irrtümern“ der Sicherheitsbehörden, die dem „NSU“-Komplex jedoch nicht gerecht werden kann. Vielmehr müssten die Strukturen und Verhältnisse, die den „NSU“ ermöglicht und geduldet haben, verändert werden. Im track wurde in diesem Zusammenhang die fehlende Aufarbeitung des institutionellen Rassismus zur Sprache gebracht. Institutioneller bzw. struktureller Rassismus meint die sozialen Wirklichkeiten, die sich aus inneren Strukturierungen von Gesellschaften ergeben, in denen Weißsein die Norm darstellt und entsprechende Privilegierungen bzw. Abwertungen, alltägliche Gewalterfahrungen und Benachteiligungen resultieren.

Vor diesem Hintergrund kann die politische Reaktion auf den „NSU“- Komplex sogar als Kontinuität struktureller rassistischer Praxen gesehen werden, die sich auch dadurch charakterisieren, dass den Betroffenen von strukturellem Rassismus nicht zugehört wird und die Erfahrungen bagatellisiert werden.

 

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Was zu wünschen übrig bleibt

Die doch sehr ernüchternden Feststellungen aus dem track möchte ich um einen Ausblick ergänzen, der keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben kann, jedoch möglicherweise den Blickwinkel weg von Gesetzesänderungen auf notwendige gesellschaftliche Veränderungen lenken kann. Denn deutlich wird auch, dass das Recht alleine niemals die Lösung des Problems sein kann.

Für das laufende Verfahren, für mögliche zukünftige Verfahren und alle anderen in die Aufklärung einbezogenen Personen und Institutionen bleibt zu wünschen, dass die Erfahrungen der Opfer und ihrer Angehörigen Gehör finden und aus diesen Erfahrungen Konsequenzen gezogen werden. Eine ernsthafte Aufklärung und Aufarbeitung erfordert die bedingungslose Aufklärungsbereitschaft aller Involvierten, die sich nicht länger ihrer Verantwortung entziehen dürfen. Ansonsten wird der Staat seine Versprechen weiterhin brechen – auf Kosten von Menschen und Menschenleben.

Die Gesellschaft ist gefordert, sich mit ihren Normen und ihrem Rassismus auseinander zu setzen und das Problem des strukturellen Rassismus endlich anzuerkennen und dies anzugehen. Eine Grundvoraussetzung dafür ist es, den von Rassismus Betroffenen endlich zuzuhören und dem Vergessen entgegenzuwirken.

Für die interessanten Inputs auf dem Kongress danke ich allen, die sich im track „Die Versprechen des Strafprozesses: Funktionen, Erwartungen und Realitäten am Beispiel des NSU-Prozesses“ eingebracht haben.

 

Zum Weiterlesen:

Pichl, Maximilian: Der NSU-Mord in Kassel – Eine Geschichte deutscher Staatsapparate und ihrer Skandale. In: Kritische Justiz, Heft 3 2015 S. 275-287

Parallelbericht „Institutioneller Rassismus am Beispiel des Falls der Terrorgruppe „Nationalsozialistischer Untergrund“ (NSU) und notwendige Schritte, um Einzelne und Gruppen vor rassistischer Diskriminierung zu schützen“ (Zugriff am 01.10.2015 um 18:05h)  http://www.opferperspektive.de/wp- content/uploads/2015/04/NSU_RassismusParallelbericht.pdf 

http://www.nsu-watch.info/ https://nsuprozessentgrenzen.wordpress.com/