Humboldt-Universität zu Berlin - Prof. Dr. Dr. h.c. Susanne Baer

Kritische Rechtswissenschaft

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... das Forschungsfeld kritische Rechtswissenschaft und Rechtstheorie.

"Recht" wird von vielen als neutral, objektiv und gerecht wahrgenommen. In der juristischen Ausbildung wird in erster Linie "reine" Dogmatik eingeübt, die sich an Gerichtsentscheidungen, Kommentaren und - nicht selten - an einer herrschenden Meinung ("h.M.") orientiert. Verzichtet wird zu oft auf eine Auseinandersetzung mit sozialen und kulturellen Vorverständnissen, die Rechtsdiskurse bestimmen und von diesen (mit-)konstruiert werden.

Sprachwissenschaftliche und rechtstheoretische Arbeiten zeigen jedoch, dass der "Glaube" an eine eindeutige und objektiv ermittelbare Bedeutung von gesetzlichen Begriffen nur eine Fiktion bleibt, die - bewusst oder unbewusst - das Politische, Soziale oder Kulturelle im Recht verschleiert. Kritische Ansätze innerhalb der Rechtswissenschaften versuchen, die gesellschaftlichen und politischen Vorprägungen, aber auch die Ausgrenzungen und Verknappungen in rechtlichen Diskursen sichtbar zu machen.

So hat etwa die feministische Rechtswissenschaft (in der Schweiz: legal gender studies, in den USA: critical legal feminism, feminist legal studies) aufgezeigt, dass Normen häufig von einem männlichen und heterosexuellen Normalsubjekt ausgehen und damit die Interessen bestimmter Menschen privilegieren, gleichzeitig unser Denken in einer binär-geschlechtlichen Ordnung vorprägen. Vergleichbare Kritiken sind im Rahmen der critical race theory und queer legal theory entstanden.

Eine Dekonstruktion solcher sozialen und kulturellen Wirkungen ist möglich, wenn die immanente (intra-disziplinäre) Perspektive der dogmatischen Rechtswissenschaft um einen transdiziplinären Ansatz erweitert wird. So lässt sich das "Recht" als soziales Phänomen, kultureller Diskurs oder auch als theoretische Konstruktion erkennen und hinterfragen.

Kritik ist danach nicht - rein destruktiv - in einem Sinn zu verstehen, der Gesetze und Recht als Macht- und Ordnungsmittel generell ablehnt. Vielmehr ist die Auseinandersetzung mit den kulturellen und sozialen Voraussetzungen scheinbar "neutraler" Rechtsvorschriften gefordert. Damit entsteht ein besseres Verständnis und einer Weiterentwicklung, ggf. sogar eine Neuorientierung.

Aus kritischer Perspektive darf das Recht bestehende Differenzen und Ausgrenzungen in der Gesellschaft nicht ignorieren, sondern muss sie zur Kenntnis nehmen, um zu "gerechten" Entscheidungen zu gelangen. Deshalb trägt "unsere" Justitia auch keine Augenbinde als Zeichen ihrer Neutralität. Sie gründet ihre Entscheidungen nicht auf das Schwert (die staatliche Gewalt), sondern auf Wissen und Einsicht (symbolisiert durch das Buch).

Weiterführende Literatur:

  • Forum Recht, "Mehr Theorie wagen - Ansätze der Rechtskritik"

  • Joerges, Christian/ Trubek, David (Eds.), Critical Legal Thought: An American-German Debate, 1989

  • Minda, Garry, Postmodern Legal Movements “Law an Jurisprudence at Century´s End", 1995

  • Ward, Ian, An Introduction to Critical Legal Theory, 1998

  • Bartlett, Katharine T., Feminist legal theory: readings in law and gender, Boulder, 1991

  • Bottomley, A / Conaghan, J. (Hg.), Feminist Theory and Legal Strategy, 1993

  • Crenshaw, Kimberly/Gotanda, Neil /Peller, Gary /Thomas, Kendall (eds.), Critical Race Theory. The Key Writings that Formed the Movement, 1995

  • Floßmann, Ursula (Hg.), Feministische Jurisprudenz: Blicke und Skizzen, 1995

  • Holzleitner, Elisabeth, Recht Macht Geschlecht. Einführung in die Legal Gender Studies, 2002

Veröffentlichungen von Susanne Baer zum Thema (Auswahl):

  • Normen zwischen Zwang, Konstruktion und Ermöglichung - Gender Studies zum Recht, in: Becker, Ruth/ Kortendiek, Beate (Hrsg.), Handbuch Frauen- und Geschlechterforschung. Theorie, Methoden, Empirie, Wiesbaden 2004, S. 643-651.
  • Justitia ohne Augenbinde? -Zur Kategorie Geschlecht in der Rechtswissenschaft, in: Koreuber, Mechthild/ Mager, Ute (Hg.), Recht und Geschlecht - zwischen Gleichberechtigung, Gleichstellung und Differenz, Baden-Baden 2004, S. 19-31.
  • Komplizierte Subjekte zwischen Recht und Geschlecht. Eine Einführung in feministische Ansätze in der Rechtswissenschaft, in: Kreuzer, Christine (Hg.), Frauen im Recht - Entwicklung und Perspektiven, Baden-Baden 2001, S. 9-25.
  • Rechtswissenschaft, in: von Braun, Christina/ Stephan, Inge (Hg.): Gender-Studien. Eine Einführung. Stuttgart 2000, S. 155-168.
  • Feministische Ansätze in der Rechtswissenschaft. Zur großen Unbekannten im deutschen rechtswissenschaftlichen Diskurs und ihrer Integration in die juristische Ausbildung. in: Rust, Ursula (Hg.), Juristinnen an den Hochschulen - Frauenrecht in Forschung und Lehre, Baden-Baden 1997, S. 153-181.
  • Dilemmata im Recht und Gleichheit als Hierarchisierungsverbot - Der Abschied von Thelma und Louise, KrimJ 28 (1996) S. 242-260.
  • A Different Approach to Jurisprudence? Feminisms in German Legal Science, Legal Cultures, and the Ambivalence of Law, Cardozo Women´s Law Journal 3 (1996) pp. 251-285.

 

Links zum Thema:


Eine Rezension zu feministischer Rechtswissenschaft finden Sie auf der homepage der querelles.net. Dort finden Sie auch einen Überblick und eine Bestandsaufnahme über Lexika, Glossare und Handbücher zur Frauen- und Geschlechterforschung.