Humboldt-Universität zu Berlin - Forschungsinstitut für Völker- und Europarecht

Humboldt-Universität zu Berlin | Juristische Fakultät | Forschungsinstitut für Völker- und Europarecht | Die Exekutivfunktion in der internationalen Gemeinschaft

Die Exekutivfunktion in der internationalen Gemeinschaft

I. Bezeichnung des Vorhabens

Das Forschungsvorhaben soll der Frage nachgehen, inwieweit sich in der gegenwärtigen Völkerrechtsordnung Ansätze einer internationalen Regierungs- und Verwaltungsfunktion entwickelt haben, die gewisse Parallelen zu den aus den nationalen Herrschaftssystemen bekannten Erscheinungsformen aufweisen. Um die zu untersuchende Problematik in ihrem systematischen Zusammenhang darzustellen, wird ein weiter, beschreibender Ansatz gewählt, auch wenn das konkrete Forschungsprojekt letzten Endes relativ enge Schwerpunkte setzen soll.

Die Völkerrechtsordnung hat in der Gegenwart eine bisher nicht gekannte Breite und Tiefe erreicht. Viele Gebiete, die nach klassischem Verständnis zum Kernbestand staatlicher Souveränität gehörten, sind heute mit einem dichten Netz internationaler Regelungen überzogen. Im Umweltrecht und im internationalen Wirtschaftsrecht haben die Normen mittlerweile eine Komplexität erreicht, die nur noch eingeweihten Fachleuten verständlich ist. Gleichzeitig hat auch die Internationale Gerichtsbarkeit einen wesentlichen Schritt vorwärts gemacht. Die Streitentscheidung durch den IGH erfreut sich bei den Staaten einer Beliebtheit wie noch nie zuvor. Gleichzeitig sind neue Gerichte, wie der Afrikanische Menschenrechtsgerichtshof oder der Seegerichtshof in Hamburg, gegründet worden. Innerhalb der WTO hat das internationale Wirtschaftsrecht eine außerordentlich weitgehende Verrechtlichung erfahren.

Gleichwohl ist die Internationale Gemeinschaft weit davon entfernt, ihre Hauptziele, Wahrung des Weltfriedens und Sicherung allgemeiner Wohlfahrt unter Einschluß der Menschenrechte, erreicht zu haben. Drei Hauptgründe für diesen Negativbefund seien im folgenden kurz skizziert.

1) Eine erste Ursache liegt bei einer rechtlichen Betrachtung in der wenig zufriedenstellenden Ausgestaltung des internationalen Institutionengefüges, also im Grunde im Wesen des Völkerrechts selbst, das nicht als eine vollständige, allumfassende Herrschaftsordnung konzipiert worden ist. Die Völkerrechtsordnung ist insofern für ihre Durchsetzung auf die Staaten angewiesen. Häufig werden aber völkerrechtliche Regelungen gar nicht oder nur mangelhaft vollzogen. Jede Rechtsordnung muß in der Tat Verfahren bereitstellen, die geeignet sind, die in ihr geltenden Normen zu verwirklichen. Es genügt nicht, auf der Ebene der Rechtssetzung perfekte Regelungen für das Verhalten der Mitglieder einer Rechtsgemeinschaft zu formulieren. Der Lackmus-Test für die Qualität der Rechtsordnung ist die Frage, wie die Normen zur Geltung gebracht werden.

Vielfach entfernt sich staatliche Herrschaftsmacht in dem Verhalten gegenüber den ihr anvertrauten Bürgern derart weit von allen zivilisatorischen Grundsätzen, daß die Staatengemeinschaft sich genötigt sieht, die Verantwortung für die betroffene Bevölkerung selber in die Hand zu nehmen. Relativ neu ist hingegen das Phänomen, daß entgegen allen Hoffnungen auf die Bildung einer wahrhaft universellen Staatengemeinschaft dem Völkerrecht die Staaten abhanden kommen. Immer häufiger muß sich die Internationale Gemeinschaft mit der Situation in Gebieten beschäftigen, in denen keine effektive Herrschaftsgewalt mehr existiert. Diese Situation ist deshalb schwierig zu meistern, weil kein Adressat, dem die Einhaltung völkerrechtlicher Normen abgefordert werden kann, mehr zur Verfügung steht.

2) Gleichzeitig sehen sich alle Staaten durch das als "Globalisierung" bezeichnete Phänomen Gefahren ausgesetzt, die in der Vergangenheit unbekannt waren. Betroffen sind auch die wirtschaftlich und militärisch mächtigen westlichen Staaten. Die zunehmende internationale Wirtschaftsverflechtung, der liberalisierte grenzüberschreitende Personen-, Waren- und Dienstleistungsverkehr und die in seinem Gefolge ebenfalls internationalisierte Kriminalität haben die Grenzen nationalstaatlicher Regelungsmöglichkeiten deutlich aufgezeigt. Völlig offen ist gegenwärtig, wie die Staaten auf diese Herausforderung reagieren können. Die Szenarien reichen vom "end of the nation-state" über ein neues Mittelalter, in dem die Macht zwischen multinationalen Unternehmen, internationalen Organisationen und großen Nichtregierungsorganisationen verteilt ist, bis hin zu einer Desintegration der Staaten in dem Sinne, dass die verantwortlichen Leitungsorgane jeweils alle ihre eigenen internationalisierten Netzwerke bilden, um so den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts auf ihrem Gebiet gerecht zu werden. Allen Szenarien gemeinsam ist die Annahme, daß der Nationalstaat an Bedeutung verlieren wird. Angesichts dieser Schwächung einzelstaatlicher Souveränität müßte an sich an den Aufbau kompensierender internationaler Ordnungsstrukturen gedacht werden, der aber bisher nur in Teilbereichen gelungen ist (etwa: Friedenssicherung durch den Sicherheitsrat, Disziplinierung des internationalen Wirtschaftsverkehrs durch die WTO).

3) Die vorstehend bezeichneten Phänomene haben eine Gegenreaktion ausgelöst, die zwar im Ansatz löblich ist, im Ergebnis aber ebenfalls zu einer Schwächung des Völkerrechts führen kann bzw. schon geführt hat. Um nämlich die der Menschheit erwachsenen Gemeinschaftsaufgaben sachgerecht bewältigen zu können, sind auf der Ebene der Rechtssetzung jedenfalls erhebliche Anstrengungen unternommen worden. So ist es in den letzten Jahrzehnten zu einer zunehmenden Komplexität und Intensität völkerrechtlicher Regelungen gekommen. Der Vollzug komplizierter und gleichzeitig sehr konkreter Regelungen, die in immer größerer Zahl verabschiedet werden, stellt die Verwaltungen vieler ärmerer Staaten vor schier unlösbare Probleme. Vollzugsdefizite treten hier nicht aus Unwilligkeit, den normativen Standard zu erfüllen, auf, sondern sind ein direktes Resultat mangelnder Ressourcen in der nationalen Administration. Überdies dringt das moderne Völkerrecht immer stärker in Bereiche ein, die traditionell als ausschließlich nationaler Zuständigkeit unterliegend betrachtet wurden. Der damit verbundene Inhaltswandel verlangt von den Regierungen vielfach, völkerrechtliche Regeln gegen ihre eigenen Völker durchzusetzen (insbesondere: Umweltschutz). Mit diesem gesteigerten Geltungsanspruch des Völkerrechts wächst seine Anfälligkeit. Auch hier fragt sich, in welchem Umfang und in welcher Form die Internationale Gemeinschaft Hilfe leisten kann.

II. Sachdarstellung

Es ergeben sich im Hinblick auf die internationale Exekutivfunktion die folgenden fünf Forschungsfelder, wo sich dynamische Entwicklungen vollzogen haben:

  • Komplex 1: internationale Verwaltung mit Durchgriffsbefugnissen gegenüber dem Bürger;
  • Komplex 2: Sicherung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit;
  • Komplex 3: treuhänderische Verwaltung von Gebieten in einer Übergangssituation;
  • Komplex 4: Überwachung der Einhaltung völkerrechtlicher Verträge durch Kontrollmechanismen auf internationaler Ebene;
  • Komplex 5: Einwirkung der Welt-Finanzinstitutionen auf die innere Ordnung der Schuldnerländer.

1) Eine unmittelbare Verwaltungstätigkeit mit Durchgriff gegenüber dem Einzelmenschen (Komplex 1) gehört auf Weltebene selbst heute noch zu den seltenen Ausnahmefällen. Vorgesehen ist, daß der Meeresboden der Tiefsee auf Grund des UN-Seerechts-Übereinkommens einem internationalen Verwaltungsregime unterstehen soll. Zwar ist das Übereinkommen bereits seit einer Reihe von Jahren in Kraft, doch begegnet man in der Wirklichkeit nach wie vor einem Stillstand, weil die Ausbeutung des Tiefseebodens und -untergrundes wegen der ungeheuren Kosten bisher ernstlich noch gar nicht begonnen hat. Durchgriffswirkungen entfaltet die internationale Strafgerichtsbarkeit heute schon in Gestalt des Internationalen Strafgerichtshofs für das ehemalige Jugoslawien und des gleichartigen Gerichtshofs für Ruanda. Mit den Institutionen einer internationalen Strafverfolgung soll sich indes das Vorhaben nicht auseinandersetzen, obwohl auch insoweit der politische Hintergrund gleich ist: Bestimmte Aufgaben können effektiv nicht von nationalen Instanzen bewältigt werden, entweder weil die Aufgaben eine grenzüberschreitende Dimension haben oder weil der Staatsapparat zusammengebrochen ist bzw. Rechtsstaatlichkeit und vor allem Objektivität vermissen läßt.

Zur bisher kraftvollsten Entfaltung des supranationalen Gedankens ist es in der Europäischen Union gekommen. Hier sind im rechtlichen Rahmen der drei Europäischen Gemeinschaften massiv Exekutivfunktionen auf von den Mitgliedstaaten gemeinsam getragene Instanzen übertragen worden. Für alle Länder der Erde bleibt die Europäische Union beispielgebend - mit ihren Stärken, freilich auch mit ihren Schwächen. Was insgesamt den Komplex 1 angeht, so soll es lediglich um Einzelaspekte von Versuchen gehen, auf Weltebene Verwaltungseinrichtungen mit echter Durchgriffswirkung auf den Einzelnen zu etablieren. Hier haben die wenigen existierenden Mechanismen insofern große Bedeutung, als ihnen notwendigerweise für die weitere Institutionenbildung Vorbildfunktion zuwächst.

2) Angemerkt wurde bereits, daß der Komplex 2, der den Hintergrund für viele der sich gegenwärtig vollziehenden Entwicklungen bildet. und daher aus dem Gesamtpanorama nicht ausgeblendet werden kann, in jüngster Vergangenheit auf ein starkes Interesse sowohl in der juristischen wie auch der politikwissenschaftlichen Forschung gestoßen ist und daher als analytisch weitgehend durchdrungen gelten kann.

3) Wenig Licht ist bisher auf die Tätigkeit der Vereinten Nationen als Organisation zur treuhänderischen Wahrnehmung von Gebietsherrschaft gefallen (Komplex 3). Ausdrücklich ist diese Funktion in der UN-Charta gar nicht vorgesehen. Die Charta geht von einem sehr klaren Konzept aus, das auf der einen Seite souveräne Staaten kennt, auf der anderen Seite Kolonialgebiete und Treuhandgebiete, die nach gewissen Übergangszeiten den Status souveräner Staaten erhalten sollten. Als selbstverständlich betrachtete man es im Jahre 1945, daß sowohl für Kolonialgebiete wie auch für Treuhandgebiete jeweils einzelne Staaten zuständig sein würden, mit einer eher distanzierten Rolle der Vereinten Nationen als Kontrollinstanz. Es war nur für den Notfall daran gedacht, UN-Verwaltungen für solche Gebiete einzurichten (vgl. Art. 81 der UN-Charta).

a) Dennoch sahen sich die Vereinten Nationen bald vor die Notwendigkeit gestellt, als Gebietstreuhänder zu fungieren. Nach dem Friedensvertrag mit Italien vom 10. Februar 1947 sollte ein "Freies Territorium Triest" gebildet werden, dessen Gouverneur vom Sicherheitsrat zu ernennen war. Im Sicherheitsrat war darüber keine Einigkeit zu erreichen. Das Projekt der internationalen Verwaltung, für das als Vorbild offensichtlich die Freie Stadt Danzig gedient hatte, war damit gescheitert.

b) Eine ganz ähnliche Lage entwickelte sich im Hinblick auf Palästina. Nach dem Teilungsplan der Vereinten Nationen aus dem Jahre 1947 sollten auf dem Boden des ehemals britischen Mandats zwei unabhängige Staaten entstehen, ein arabischer und ein jüdischer Staat, während Jerusalem einen Treuhandstatus mit den Vereinten Nationen als Verwaltungsmacht erhalten sollte. Auch dieses Projekt ließ sich angesichts der kriegerischen Verwicklungen, die unmittelbar der Ausrufung des Staates Israel am 14. Mai 1948 folgten, nicht verwirklichen.

c) Besser gelang die Überführung Libyens in die Unabhängigkeit, obwohl die Vereinten Nationen im Falle Libyens nicht die Gesamtverantwortung für das Schicksal des Landes zu tragen hatten.

d) Über ein Jahrzehnt lang kam es zu keiner weiteren einschlägigen Praxis, bis im Oktober 1966 die Generalversammlung der Vereinten Nationen das Mandat über Namibia beendete, weil Südafrika die ihm obliegenden Verpflichtungen aus dem mit dem Völkerbund geschlossenen Mandatsabkommen vor allem durch die Einführung des Apartheidssystems gröblich verletzt hatte.

Hier lag in der Übergangszeit (1. April 1989 bis zur Wahl vom 11. November 1989) ein Großteil der Verantwortung für das Land in den Händen von UNTAG. Zeitweise waren rund 8.000 Personen aus 120 Ländern im Dienst der Vereinten Nationen in Namibia tätig. Die Operation rechnet zu den großen Erfolgskapiteln in der Geschichte der Weltorganisation.

e) Noch weiter reichten die Befugnisse der Vereinten Nationen im Falle von Kambodscha. In langwierigen Verhandlungen mit den Bürgerkriegsparteien des Landes wurde ein Gesamtfriedensplan geschnürt, der sowohl vom Sicherheitsrat (Resolution 668 vom 20. September 1990) als auch von der Generalversammlung (Resolution 45/3 vom 15. Oktober 1990) gebilligt wurde. Zwar handelte es sich nicht um eine vollständige Übernahme der Regierungsbefugnisse durch die Vereinten Nationen, aber immerhin stand ein wesentlicher Teil des öffentlichen Lebens des Landes unter ihrer Verantwortung. Insgesamt fällt das Urteil über die Kambodscha-Operation zwiespältiger aus. Zwar gelang es, die von den Vereinten Nationen organisierten Wahlen wie vorgesehen durchzuführen, doch blieben die von ihnen erhofften befriedigenden Wirkungen zunächst aus, und neue Kämpfe flammten auf. Erst in der Gegenwart scheint Kambodscha auf einen Kurs friedlichen Ausgleichs gelangt zu sein.

f) Die Notlage in Somalia, wo in den Jahren 1991/92 jegliche staatliche Autorität zerfallen war, machte kurze Zeit später ein Eingreifen erforderlich, doch scheute der Sicherheitsrat davor zurück, tief in die Selbständigkeit des Landes einschneidende Maßnahmen zu beschließen. Maßgeblich mag zu dieser Distanzierung die negative Einschätzung möglicher Erfolgsaussichten beigetragen haben, da keine einzige Gruppe zu erkennen war, die das Gesamtinteresse des Staates Somalia im Auge gehabt hätte. Es war deswegen auch eine fast zwangsläufige Folge, daß die Somalia-Operation mit einem Fehlschlag endete.

g) Im Falle des ehemaligen Jugoslawien haben sich unterschiedliche Entwicklungen vollzogen. Was die Bildung und Konsolidierung des Staates Bosnien-Herzegovina angeht, so ist durch das Abkommen von Dayton (vom 14. Dezember 1995, International Legal Materials 1996, S. 89) eine Rechtsgrundlage geschaffen worden, die formal einen voll souveränen Staat konstituiert. Aber die Staatsverfassung enthält unterschiedliche internationale Elemente, die Gewähr für die Bewahrung der Rechtsstaatlichkeit in dem jungen Staatswesen bieten sollen. An erster Stelle sind hier zu nennen der Ombudsman für Menschenrechte sowie die Menschenrechtskammer: der Ombudsman darf weder ein Staatsangehöriger von Bosnien-Herzegovina noch ein Angehöriger eines der Nachbarstaaten sein, und von den Mitgliedern der Menschenrechtskammer muß ebenfalls über die Hälfte aus Ausländern mit denselben Eigenschaften bestehen. Was eigentliche Verwaltungsfunktionen angeht, so erklärten sich die Vereinten Nationen bereit, vorübergehend das während des Krieges von serbischen Verbänden okkupierte Gebiet von Ost-Slawonien bis zu seiner Reintegration in den kroatischen Staat unter ihre Kontrolle zu nehmen (Abkommen vom 12.11.1995, ILM 1996, S. 196, implementiert durch Resolution 1037 des Sicherheitsrates vom 15.1.1996, ILM 1996, S. 189).

h) Eine ganz neue Dimension hat jüngst das Problem durch die Resolution 1244 des Sicherheitsrates vom Juni 1999 erhalten, die vorsieht, daß der Kosovo während einer Übergangszeit bis zur faktischen Vollendung eines Autonomie-Status für die Kosovaren unter UN-Verwaltung stehen soll. Zum ersten Mal ist damit außerhalb des Dekolonisierungsprozesses ein Teil eines souveränen Staates der Treuhänderschaft der Vereinten Nationen unterstellt worden.

i) Sehr viel bessere Perspektiven hat hingegen von vornherein die Übergangsverwaltung der Vereinten Nationen für Ost-Timor (vgl. Resolution 1264 des UN-Sicherheitsrates vom 15.9.1999). Trotz der gewaltigen Zerstörungen, die das Land in nur drei Wochen seit dem Bekanntwerden der Ergebnisse der Volksabstimmung vom 30. August 1999 erfuhr, ist die überwiegende Bevölkerungsmehrheit zu einer loyalen Zusammenarbeit mit den Vereinten Nationen bereit, da sie erwarten darf, dass sie auf dem Wege in die Unabhängigkeit von der Weltorganisation jede nur denkbare Unterstützung erhalten wird.

j) Die Übernahme unmittelbarer Gebietsverwaltung stellt die Vereinten Nationen vor erhebliche Probleme. Wie schon hervorgehoben, sieht die Charta eine solche Aufgabe nicht vor. Demgemäß kommt es schon im Vorfeld der eigentlichen operativen Arbeit zu einer wegweisenden Kompetenzfrage. Sowohl der Sicherheitsrat wie auch die Generalversammlung können mit einem gewissen Recht die entscheidenden Zuständigkeiten für sich beanspruchen. Grundsätzlich beschränkt sich die Aufgabe des Sicherheitsrates auf die Gewährleistung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit. Zwar sind alle Fälle unmittelbarer Gebietsverwaltung schon allein deswegen durch ein starkes sicherheitspolitisches Element gekennzeichnet, weil offensichtlich die klare Zuordnung zu einem bestehenden Staatswesen fehlgeschlagen ist oder es sich gerade um Abspaltung von einem solchen Staatswesen handelt.

Aber damit ist nur ein Teil der Problematik erfaßt. Auch eine Übergangsverwaltung muß sich mit einer Fülle allgemeinpolitischer Fragen auseinandersetzen, für die nach der Logik der Charta nur die Generalversammlung in Betracht kommt. So deutet ein vorläufiger Befund auf die Notwendigkeit einer Zusammenarbeit zwischen den beiden politischen Hauptorganen hin, da der Treuhandrat allein auf die klassischen Treuhandgebiete zugeschnitten war und sich ohne Satzungsänderung nicht einfach umpolen läßt. Für ein solches kontinuierliches Zusammenwirken zwischen Sicherheitsrat und Generalversammlung gibt es aber keine Vorbilder in der Geschichte der Weltorganisation. Auf eine Änderung der Charta wird man auf keinen Fall setzen können. Viel zu heikel ist das Thema als genereller Komplex.

Es wird also darauf ankommen, im Geiste der Charta konstruktiv neue Wege zu bahnen. Glücklicherweise hat der Internationale Gerichtshof sich in seiner bisherigen Rechtsprechung solchen Bedürfnissen der Praxis gegenüber außerordentlich aufgeschlossen gezeigt. Viele sachkundige Beobachter sprechen von einer Rezeption der Lehre von den implied powers, wie sie der US-amerikanische Supreme Court entwickelt hat. Besonders deutliche Anklänge in diese Richtung weisen die beiden Gutachten in den Fällen Reparation for Injuries Suffered in the Service of the United Nations (ICJ Reports 1949, S. 174) sowie Effect of Awards of Compensation Made by the United Nations Administrative Tribunal (ICJ Reports 1954, S. 47) auf. Der ausschlaggebende Gesichtspunkt dürfte im vorliegenden Zusammenhang sein, daß andere Lösungen in der Regel gar nicht denkbar sind, jedenfalls außerhalb Europas. Wenn sich nicht die Vereinten Nationen der Verwaltung eines Gebiets mit ungeklärtem oder in der Entwicklung befindlichem Status annehmen, ist eben niemand sonst vorhanden, der sich der Herausforderung stellen könnte. Argumente, die sich auf den schriftlich fixierten Geltungsumfang der Charta beziehen, verlieren deswegen an Gewicht. Dennoch bleibt zunächst ein gehöriges Maß an Rechtsunsicherheit, das gerade in einer Konfliktsituation die Spannungen verschärfen kann.

k) Eine Treuhandverwaltung kann nicht einfach Herrschaft über Unmündige sein, sondern muß sich jedenfalls heute an den allgemeinen Konzepten von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit messen lassen. Dabei bedarf es in jedem Falle einer heiklen Balance, weil eine Treuhandverwaltung durchweg ja gerade deswegen eingerichtet wird, weil die betroffene Bevölkerung wegen innerer Labilität oder äußerer Bedrohungen nicht in der Lage ist, ihr Geschick in die eigenen Hände zu nehmen. So ist dem Beauftragten des UN-Generalsekretärs im Kosovo in umfassender Weise die Legislativ-, Exekutiv- und Justizgewalt übertragen. Ganz offensichtlich muß solche Macht durch entsprechende Mitwirkungsrechte der einheimischen Bevölkerung im demokratischen Sinne korrigiert werden. Abstriche sind wohl auch bei den üblichen Gewährleistungen der Rechtsstaatlichkeit erforderlich, weil es sich aus rein faktischen Gründen in der Regel als unmöglich erweisen wird, ein perfektes Justizsystem aufzubauen.

4) Der Komplex 4 ist an sich in seinen Einzelelementen gut bekannt. Zahllose Studien haben sich mit den einzelnen Verfahren befaßt und ihre spezifischen Vorzüge und Nachteile beleuchtet. Was aber fehlt, ist durchweg eine Gesamtschau. Gerade auf dem Gebiet des Umweltschutzes kommt es auf das Gesamtergebnis an, wenn man zu einer Wertung der in vielfältigen Variationen und Nuancierungen - und mit großem finanziellen Aufwand - unternommenen Anstrengungen schreitet.

5) Einen weiteren schwierigen Fragenkomplex bildet, wie bereits angedeutet, die indirekte Einflußnahme auf viele Staaten durch die internationalen Finanzinstitutionen (Komplex 5). Niemals würden sich die Weltbank und der Internationale Währungsfonds (IMF) anmaßen, selbst die Geschicke eines Landes zu lenken. Wenn es aber um massive Kreditgewährung geht, machen beide Institutionen den kreditnehmenden Ländern in der Regel tiefgreifende Auflagen, durchweg in der Absicht, bei der Rückgewinnung wirtschaftlicher Stabilität Hilfestellung zu leisten, um so auch die Grundlagen für eine Rückzahlung der bewilligten Gelder zu festigen. Vielfach ist dabei verlangt worden, daß erhebliche Einschnitte in sozialstaatliche Vergünstigungen erfolgen. Nicht nur in einer populistisch gestimmten Presse, sondern auch in ernsteren Publikationen ist deswegen vor allem der IMF immer wieder als unverantwortliches Instrument des internationalen Kapitals kritisiert worden.

Es kann im vorliegenden Zusammenhang nicht um technische Details der Kreditvergabepolitik der Washingtoner Finanzinstitutionen gehen. Aber die Frage erhebt sich doch, welche normativen Leitbilder von dieser Politik verfolgt werden und ob deswegen die in ihrem Rahmen gemachten Auflagen für sich jene Legitimität beanspruchen können, welche sie allein schon zum Zwecke ihrer Effektivität benötigen. Seit den späten 80er Jahren ist unter intellektueller Führung der Weltbank das Konzept von good governance entwickelt worden, das sicher nicht zu beanstanden ist, aber nicht allein stehen darf, sondern mit den sonstigen von der internationalen Gemeinschaft anerkannten Werten in Beziehung gesetzt werden müßte. Im übrigen stellt sich auch mit aller Schärfe die Frage nach der Verantwortlichkeit. Im demokratischen Staat sind Parlament und Regierung der Kritik des Wählers als der Urzelle aller öffentlichen Gewalt unterworfen. In internationalen Organisationen verflüchtigt sich die Verantwortlichkeit in bürokratischen Mechanismen. Wenn es etwa durch die Anwendung der Rezepte des IWF in einem Lande zu wirtschaftlicher Zerrüttung, zu sozialen Unruhen und möglicherweise sogar zu gewaltsamen Ausschreitungen kommt, läßt sich dies zu Lasten der "schuldigen" Stichwortgeber gar nicht sanktionieren, schon deshalb nicht, weil in der Regel - so jedenfalls in der Vergangenheit - die Stand-By-Arrangements als Grundlage der Kreditvergabe gar nicht veröffentlicht werden.

Im Schlußergebnis des gesamten Vorhabens soll es um eine Systematisierung gehen, in deren Verlauf das diffuse Gebilde "internationale Gemeinschaft" mit seinen drei Funktionen Gesetzgebung, Exekutive (Regierung und Verwaltung) sowie Judikative einer näheren Identitätsbestimmung unterworfen werden soll, selbstverständlich mit dem besonderen Augenmerk auf der Exekutivfunktion. Die aufgezeigten Entwicklungen machen deutlich, daß sich im internationalen Bereich gegenwärtig ein gewisser Paradigmenwechsel vollzieht. Während das "klassische" Bild der Völkerrechtsordnung vom souveränen Staat geprägt wird, läßt sich heute behaupten, daß dem Gemeinschaftselement ein fast gleichgewichtiger Stellenwert zukommt. Auf allen Gebieten haben internationale Bindungen materieller Art zugenommen und sind Gremien eingesetzt worden, die in unterschiedlicher Form an der Durchsetzung der bestehenden Verpflichtungen mitwirken. Es gilt das Gespür dafür zu schärfen, daß die Einzelphänomene in der Gesamtschau auf einen qualitativen Umschwung im internationalen Ordnungssystem hindeuten.