Franz von Liszt (1851-1919)
Die dieser Zusammenfassung zugrundeliegende Dissertation „Das Standardwerk. Franz von Liszt und das Völkerrecht“ entstand 1997 bis 1999 unter der Betreuung von Prof. Dr. Dr. h.c. Michael Stolleis am Max-Planck-Institut für Europäische Rechtsgeschichte in Frankfurt am Main im Rahmen eines Projektes der Deutschen Forschungsgemeinschaft zur „Ideen- und Wissenschaftsgeschichte des Völkerrechts zwischen Reichsgründung und Nationalsozialismus“. Sie wird als Band 2 einer Reihe zur Völkerrechtsgeschichte beim Verlag Nomos in Baden-Baden erscheinen.
Wollte man sich in den ersten beiden Jahrzehnten des nun zu Ende gegangenen Jahrhunderts über das geltende Völkerrecht auf der Höhe seiner Zeit informieren, so griff man zum »Völkerrecht. Systematisch dargestellt« von Franz von Liszt (1851-1919). Hinsichtlich seiner Autorität und Verbreitung war das Buch vergleichbar mit den großen Lehrbüchern des 19. Jahrhunderts. Mehrere Generationen von Juristen des deutschsprachigen Raumes sowie des europäischen Auslandes studierten mit ihm das Völkerrecht und eigneten sich dadurch ihr völkerrechtliches Handwerkszeug an. Mit Fug und Recht läßt sich feststellen, daß das Lisztsche Lehrbuch mit seinen elf Auflagen von 1898 bis 1919 mehr zur Verbreitung der Kenntnisse auf diesem Rechtsgebiet beigetragen hat, als jedes seiner Vorgänger. Es war »das Lehrbuch« schlechthin geworden.
Liszt war durchaus ein arrivierter Großordinarius an der größten Juristenfakultät des deutschen Reiches. Seine wissenschaftliche Grundausbildung absolvierte er an den Universitäten in Wien und Graz. Den ersten Lehrstuhl erhielt er 1879 in Gießen. Zur Berühmtheit wurde er in seiner Marburger Zeit zwischen 1882 und 1889, wo er im Rahmen des von ihm gegründeten kriminalistischen Seminars seine strafrechtliche Schule etablierte. 1889 wurde er nach Halle berufen, wo er bis zu seinem Wechsel nach Berlin lehrte. 1898 wurde er – wie bereits 1896 von der grauen Eminenz der preußischen Universitätspolitik, Friedrich Althoff, versprochen – Nachfolger des Strafrechtlers Berner an der Berliner Juristenfakultät. Er brachte nicht nur seine weltweite Reputation mit, sondern auch sein Strafrechtsseminar mit der über 15.000 Bände umfassenden Bibliothek, die er 1912 dem Preußischen Staat schenkte und die noch heute mit ca. 12.000 Bänden – teilweise auf die Fachbereichsbibliotheken verteilt – existiert.
Der Berliner Lehrauftrag, den er bis zu seiner Emeritierung 1917 ausführte, lautete wie bereits in Halle auf Strafrecht und Völkerrecht. Diese Kombination mag heute verwundern, da sie unüblich geworden ist, ist doch das Völkerrecht heutzutage dem öffentlichen Recht zugeordnet. Man kann diese Verbindung jedoch zum einen aus der geistesgeschichtlichen Verflechtung von Naturrecht, Völkerrecht, Strafrecht und Rechtsphilosophie erklären, zum anderen daraus, daß das Völkerrecht damals in der Lehre durchaus noch ein Schattendasein führte und – quasi als Notlösung – aus der traditionellen Verbundenheit heraus von zahlreichen Strafrechtlern mitbetreut wurde. Liszt war dies jedoch nicht wie manchen anderen eine lästige Pflicht geblieben. Vielmehr mauserte er sich gerade in der Berliner Zeit zu einem »wirklichen Völkerrechtler«, wofür nicht zuletzt seine Mitgliedschaft in verschiedenen, teils sehr renommierten Standesvereinigungen der Völkerrechtler ein Indiz ist. Mit Niemeyer und Lippmann war er beispielsweise im Vorstand der Gesellschaft für Völkerrecht und seit 1900 assoziiertes, seit 1908 ordentliches Mitglied des Institut de Droit International. Als Strafrechtler und als Völkerrechtler stand er also in Berlin auf dem Zenit seiner Laufbahn.
Gleichwohl aber war er kein Mainstream-Professor seiner Zeit, sondern blieb seinen liberalen Grundeinstellungen, die bereits in seiner Herkunft aus der Wiener Oberschicht angelegt waren, sein ganzes Leben lang treu. So sehr auch Liszt Patriot war, so wenig ließ er sich weder unter dem Eindruck der Euphorie zu Beginn, noch der Niedergeschlagenheit gegen Ende des Ersten Weltkrieges zu Extrempositionen hinreißen. Im Gegensatz zu vielen German Mandarins (Ringer) verlor er selbst während des Krieges seinen Glauben an eine »schöne Zukunft der Menschheit« nicht und bewahrte seinen »Traum einer friedlichen und fruchtbaren Zusammenarbeit der Wissenschaftler der Welt«. Während die Waffen auf den Schlachtfeldern des Ersten Weltkrieges gleichsam das Sinnbild der »ultima ratio dieser Welt« verkörperten, arbeitete er an zwei neuen Auflagen seines Völkerrechts. So zieht sich vor allem durch sein Lehrbuch des Völkerrechts als roter Faden die Suche nach Wegen und Möglichkeiten zur Gestaltung einer besseren Zukunft des Völkerrechtes.
Seiner Neigung zur Veränderung konnte er auch auf dem politischen Parkett nachgehen. In seiner Berliner Zeit entfaltete er ein beachtliches Engagement als Abgeordneter der Fortschrittlichen Volkspartei, insbesondere im Reichstag (1912-1918), im Preußischen Abgeordnetenhaus (1908-1913) und in der Stadtverordnetenversammlung von Charlottenburg (1903-1912). So war er vielleicht einer der letzten »politischen Professoren«, blieb aber im ganzen betrachtet politisch stets ein Hinterbänkler; es überwog bei ihm der Habitus des Professoralen. So sehr sein politischer Impetus im und hinter dem Werk sichtbar wird, so sehr aber war es ihm wichtig, nach wissenschaftlicher Methode und mit dem Ziel der wissenschaftlichen Erkenntnis zu arbeiten. Er spielte nie auf der gesamten Klaviatur eines professionellen Politikers. Auch als Völkerrechtler trat er nie als Berater offizieller Stellen oder als internationaler Schiedsrichter auf. Als Fortschrittlicher war er freilich auch Außenseiter im politischen Geschäft und ein Dorn im Auge der Ministerialbürokratie.
Natürlich war er im fortgeschrittenen Alter, in dem er sich dem Völkerrecht intensiv zu widmen begann, nicht mehr die »Kampfnatur«, wie sie uns von seinen jüngeren und mittleren Jahren geschildert wird. Er hatte sich dem Fach auch nicht mit dem Elan des ganz jungen Professors, von dem Veränderung und Provokation geradezu erwartet wird, genähert, sondern erst in Halle aus seiner Lehrverpflichtung heraus.
Doch das Völkerrecht war ihm nicht bloßes Nebenfach geblieben. Gerade dieses Fach kam seiner Offenheit für Anregungen aus anderen Gebieten des Rechts entgegen, zumal er von jeher ein großes Interesse für die Interdisziplinarität und die Internationalität des Rechts gezeigt hatte. Zugleich war er wegen seines strafrechtlichen Wirkens über Deutschland hinaus in ganz Europa zu einer anerkannten Größe geworden. Man kannte und schätzte den gründlichen und weitblickenden Strafrechtler und erwartete nichts anderes vom Völkerrechtler Liszt, was im übrigen auch die Nachfrage nach zahlreichen Übersetzungen des Völkerrechtslehrbuches erklärt.
Schließlich ist vor allem das Völkerrecht ein Rechtsgebiet, das wegen seiner stetigen Veränderung und Flexibilität den Juristen sympathisch und der Mühen wert sein muß, die am wissenschaftlichen Stillstand und – wie Liszt es oft formulierte – am juristischen »Formel-Krimskrams« keinen Gefallen fanden.
Liszt hatte ein gutes Gespür für Marktlücken. Wie schon Jahre zuvor mit seinen Lehrbüchern des Presserechtes, stieß er in eine solche auch mit seinem Völkerrechtslehrbuch. Das Völkerrecht fand an den deutschen Hochschulen wenig Beachtung. Auch im Bewußtsein der maßgeblichen Kreise in Deutschland während der Hochphase der Reichsgründungszeit nach 1870/71 spielte es kaum eine Rolle. Erst mit den Haager Konferenzen von 1899 und 1907 belebte sich die Disziplin allmählich wieder. In erster Linie waren es die liberal gesinnten Juristen wie Liszt, die sich des Völkerrechts mit Schwung und positivem Impetus annahmen.
So hatte Liszt mit seinem Lehrbuch eine hervorragende Plattform, nicht nur die Subjekte, Institutionen und Handlungsformen des klassischen Völkerrechtes darstellen, sondern auch einige seiner völkerrechtspolitischen Überlegungen und Forderungen propagieren zu können.
Im Lehrbuch des Völkerrechts kam – wie auch in seinen übrigen drei Lehrbüchern des österreichischen und später des deutschen Presserechts sowie natürlich des Strafrechts – Liszts Gabe zum Tragen, einen riesigen Tatsachen- und Rechtsstoff in wenigen Sätzen zusammenzufassen. Schon die erste Auflage setzte sich zum Ziel, scharfe, schneidige Begriffe und eine klare Systematik zu entwickeln. Das machte in erster Linie den pädagogischen Wert des Buches aus. Damit verband sich aber auch die für das Völkerrecht unentbehrliche Fähigkeit, neues Recht zu »finden« oder »die normative Kraft des Faktischen in ihrer ganzen schöpferischen Bedeutung zu erfassen« (Liszt).
Teilweise apodiktisch und wenig zur Diskussion einladend, handelte er die gängigen Topoi des Völkerrechtes ab. Liszts Lehrbuch verkörpert eben nicht eine geistreiche Mindermeinung, sondern geradezu die Summe des Völkerrechts, wie es sich zu seiner Zeit darstellte, wie die herrschende Meinung dachte und wie die Staatenpraxis aussah. Es vermittelte für die Zwecke der Praxis und der Lehre einen schnellen Zugriff zum völkerrechtlichen Stoff, ohne durch dessen Masse zu verwirren. Liszts Werk war fast wie ein Kodex zu gebrauchen, so umfassend und systematisch war es konzipiert. Gleichzeitig aber war es handlich geblieben und mit einem ausgesprochen praktischen Quellenteil ausgestattet. Damit befriedigte es alle Ansprüche der breiten Mehrheit seiner Leserschaft.
Allein, innerhalb des Rahmens, der ihm auch durch die Gattung »Lehrbuch« gezogen war, war Liszt durchaus innovativ. Das zeigt sich insbesondere an seinen Ausführungen zur Staatengemeinschaft, zum Seekriegsrecht, zum Prisenrecht, zu den völkerrechtlichen Grundrechten sowie zum Auslieferungsrecht. Gerade letzteres war ein idealer Anknüpfungspunkt zwischen seinen beiden Disziplinen, dem Straf- und Völkerrecht. Es gelang ihm gleichermaßen, eine klassische, vom Souveränitätsdenken des 19. Jahrhunderts ausgehende Idee von der Staatenwelt zu artikulieren, und dieser dennoch nicht verhaftet zu bleiben. Denn das Völkerrecht war Liszt noch nicht mächtig, das heißt effizient genug. So stand er der Schaffung eines obligatorischen Schiedsgerichtshofes stets ausgesprochen positiv gegenüber und verurteilte die ablehnende Haltung der deutschen Delegation, an der auf der zweiten Haager Konferenz ein obligatorisches Weltschiedsgericht gescheitert war. Er war ein begeisterter Anhänger der Errichtung eines Internationalen Prisenhofes, sah er darin doch den ersten Schritt zu einer effektiven Integration der Staaten zu einem eher herrschaftlich als genossenschaftlich organisierten Staatenverband.
Insgesamt stand die Interessen- und Kulturgemeinschaft der Völker sowie deren Organisation in einem Staatenverband im Mittelpunkt seines völkerrechtlichen Interesses. Zur nachhaltigen Sicherung des friedlichen Nebeneinanders der Staaten forderte er eine intensivere Integration der Staatenwelt. Ausgehend von der Zusammenarbeit wirtschaftlich, kulturell und geographisch eng verbundener Staaten – er dachte dabei zunächst an Österreich-Ungarn und Deutschland – sah er ein »Völkerrecht der Staatengruppen« entstehen. In diesen überschaubaren internationalen Zusammenschlüssen sah er praktikable völkerrechtliche Subsysteme entstehen, in denen sich völkerrechtliche Regeln herausbilden und bewähren sollten.
Bereits seit 1914 äußerte er sich zu den Fragen um die Gestaltung eines künftigen Völkerbundes, den er »Völkerareopag« nannte. Man kann ihn daher in gewisser Weise auch zu den Vordenkern, zumindest aber zu den namhaften Befürwortern eines solchen Unternehmens zählen. So forderte er etwa einen wirklichen, mit Gerichts- und Zwangsmacht ausgestatteten Völkerbund als Zusammenschluß gleichberechtigter Staaten zur Sicherung des Friedens – im Gegensatz zu einem Verband der Siegermächte zur Konservierung der Allianz gegen Deutschland, als der in Deutschland das Völkerbundsprojekt Wilsons allgemein empfunden wurde. Verständlich ist daher auch seine Enttäuschung, als sich im Verlauf der Versailler Friedensverhandlungen abzeichnete, daß die deutschen Wünsche keine Berücksichtigung finden würden.
Wird vom Strafrechtler Liszt gesagt, es sei angesichts seiner Variationsbreite nicht überraschend, daß keine der gängigen »Einordnungen« seiner Persönlichkeit überzeuge, so bestätigt sich dieses Urteil auch für den Völkerrechtler.
Er war beweglich genug, ein völkerrechtliches Leitwerk vorlegen zu können, das den Übergang vom alten Völkerrechtsdenken des 19. Jahrhunderts hinüber zu den modernen Ideen der Völkerbundszeit erlaubte. Er war kein reiner Positivist, sondern bemühte sich durch seine völkerrechtssoziologischen Ansätze, das Auseinanderdriften von Recht und Realität zu verhüten. Er nahm nicht Abschied vom souveränen Staat und befürwortete doch seine bedingungslose Unterordnung unter ein internationales Regime der Friedenssicherung. Blickt man auf das völkerrechtliche Werk Liszts zurück, so muß man zu dem Schluß kommen, daß ein deutscher völkerrechtlicher »Sonderweg«, so es ihn denn überhaupt gegeben hat, zumindest in seinem Denken keinen Raum hatte.
Franz von Liszt dokumentiert somit die Spannung zwischen altem, klassischem und modernem Völkerrecht wie kaum ein anderer. Das Standardwerk des Völkerrechts und sein Autor bleiben ein außergewöhnliches und ausgesprochen faszinierendes Phänomen der Geschichte des Völkerrechts am Ende des langen 19. Jahrhunderts.
Bibliographie der wichtigsten völkerrechtlichen Schriften Franz von Liszts (Auswahl):
- Das Völkerrecht. Systematisch dargestellt, 11. Auflage, Berlin 1918 (12. Auflage 1925, bearbeitet von Max Fleischmann)
- Das Wesen des völkerrechtlichen Staatenverbandes und der Internationale Prisenhof, in: Festgabe der Berliner Juristischen Fakultät für Otto von Gierke zum Doktorjubiläum 21. August 1910, Bd. 3, Breslau, 1910 (Nachdruck Frankfurt am Main, 1969), S. 21 ff.
- Ein mitteleuropäischer Staatenverband als nächstes Ziel der deutschen auswärtigen Politik, Leipzig 1914
- Nibelungentreue, in: Österreichische Rundschau Bd. 42 (1915), S. 87 ff.
- The Reconstruction of International Law, in: Pennsylvania Law Review Bd. 64 (1916), S. 765 ff.
- Vom Staatenverband zur Völkergemeinschaft. Ein Beitrag zur Neuorientierung der Staatenpolitik und des Völkerrechts, München/Berlin 1917
- Gewaltfrieden oder Völkerwort. Ein Mahnwort in letzter Stunde, in: Neue Zürcher Zeitung Nr. 1428 v. 27.10.1918, S. 1
Vgl. über Franz von Liszt auch die Kurzbiographie in: Gerd Kleinheyer/Jan Schröder (Hrg.), Deutsche und Europäische Juristen aus neun Jahrhunderten, 4. Auflage, Heidelberg 1996, S. 248-253