Humboldt-Universität zu Berlin - Integrative Research Institute Law & Society (LSI)

Recht praktisches Asylrecht!?

 

Sophia Härtel

Man könnte meinen, Artikel 16a GG sei unmissverständlich und eindeutig formuliert: „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht.“ Dass dieses Recht für viele Menschen mehr leere Versprechung als effektiven Menschenrechtsschutz darstellt, ist traurige Realität in Europa.

Wo liegt der Unterschied zwischen „Recht haben“ und „Recht bekommen“? Was muss sich ändern? Was kann die Politik von der Wissenschaft lernen? Und wie lassen sich Rechtsforderungen und -zuschreibungen der Flüchtlinge zwischen Nationalstaat, europäischem Asylsystem und der Gesellschaft aus unterschiedlichen wissenschaftlichen Perspektiven analysieren?

Fragen dieser Art waren Gegenstand einer von Andrea Fritsche und Julia Dahlvik organisierten Themensitzung mit dem Titel „Asyl und Menschenrechte – Versprechungen im Spannungsfeld zwischen universellen Rechten und nationalen Interessen“ im Rahmen des 3. Kongress der deutschsprachigen Rechtssoziologie- Vereinigungen in Berlin.

Die Aktualität dieser Thematik und die Frage, inwiefern die Versprechungen des Menschenrechts im nationalen Asylrecht eingelöst werden, waren es auch, die mich als Jurastudierende des 5. Semesters, in dem die Ausbildung des Migrationsrechts nicht als zentraler Lehrinhalt vorgesehen ist, dazu bewogen, an diesem Panel teilzunehmen. Im Nachgang der Sitzung ergab sich mir die Gelegenheit ein weiterführendes Gespräch mit Frau Fritsche zu führen, in dem es auch um Migrationsrecht als solches, insbesondere aber einen sozialkonstruktivistischen Forschungszugang und die schwierige Rolle interdisziplinärer Rechtsforschung im Spannungsfeld von Praxis und Politik ging.

Frau Fritsche, Sie studierten Soziologie sowie Internationale Entwicklung. Der Fokus ihrer derzeitigen soziologischen Promotion an der Universität Wien liegt hauptsächlich auf Asyl- und Menschenrechten. Wie kam es zu dieser Spezialisierung auf das Recht?

Mein Fach, in dem ich mich zu Hause fühle, ist eher die Soziologie. Der Aspekt der Asyl- und Menschenrechte ist dadurch entstanden, dass ich mich mit Migrationsthemen schon während des Studiums im Rahmen der Entwicklungssoziologie und in Zusammenhang mit Nord-Süd-Beziehungen beschäftigt habe. Durch einen Auslandsaufenthalt kam ich dann mit Menschenrechten in Verbindung, jedoch v.a. in Bezug auf „das Recht auf Wasser“. Eine Zusammenführung dieser Themen in einem europäischen bzw. einem österreichischen Kontext ist sehr schwierig. Dass ich mich jetzt mit Asyl auseinandersetze liegt daran, dass Asyl ganz stark in der Praxis in das Migrationsrecht eingeschrieben ist, wobei es eigentlich im Menschenrecht verankert sein müsste. Der Asylfokus ergibt sich also aktueller Bedingungen.

Im Kontext ihrer Arbeit: Was bedeutet also Recht für Sie?

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Das ist eine gute Frage. Ich hatte immer ein großes Problem damit, überhaupt zu verstehen, was Recht ist. Ist es das, was da in den Gesetzen geschrieben ist? - Welche ich als Soziologin auch nur begrenzt verstehen kann. Ist es die Rechtspraxis? Ist es etwas anderes darüber hinaus? In welchem Verhältnis steht im Alltag das Recht zu anderen Normen?

Das Recht ist für mich eine sehr komplexe soziale Tatsache, die sich unter anderem durch die Gesetze und die Rechtsprechung nährt, aber auch ganz stark durch Diskurse gerade im menschenrechtlichen Kontext geprägt wird. Es ist dieses Zusammenspiel von gesellschaftlichen Bedingungen und Bewegungen, die Einfluss auf das haben, was das Recht ist und gleichzeitig das Recht, das bestimmt, wie die Gesellschaft normiert wird und was die Gesellschaft für Möglichkeiten hat. Aus juristischer Perspektive ist das Recht nicht schwer fassbar, aber aus einer sozialen Perspektive ist es das, weil viele verschiedene Aspekte, wie Diskurse, Gesetz, Rechtspraxis und mehr dabei zusammenspielen.

Sehen wir uns das Asylrecht in Bezug auf Menschenrechte an: Erst kürzlich hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte entschieden, dass ein Ankunftsland die Menschenrechte von Flüchtlingen unbedingt trotz Überlastung und Aufnahmeregelungen achten muss. (Urt. v. 01.09.2015, Az. 16483/12) Welche Rolle spielt der EGMR? Was bedeuten solche Urteile in der Praxis für Flüchtlinge und Asylbewerber_innen?

Der EGMR spielt eine wichtige Rolle, um die Interessen des Nationalstaats in einem bestimmten Rahmen zu halten bzw. dem Nationalstaat bestimmte Grenzen zu setzen. Er eröffnet einen Rechtsweg, wo Rechte einfordern oder Rechtsverletzungen angeklagt werden können, die über den Nationalstaat hinausgehen.

Für Flüchtlinge und Asylsuchende spielt der EGMR dann insofern eine Rolle, wenn dessen Rechtsprechung in weiterer Folge in der Praxis umgesetzt wird bzw. umgesetzt werden muss. Nehmen wir hier zum Beispiel die Zurückschiebungen nach Griechenland, die jetzt nicht mehr möglich sind. In Bezug auf die Durchsetzung von eigenen Rechten im Individualfall ist es allerdings nur eine sehr privilegierte Gruppe von Asylsuchenden und Flüchtlingen, die auf den EGMR zurückgreifen kann. Für den Weg zum EGMR braucht es sehr viel Wissen und entsprechende Ressourcen, um Rechtsberatung, Rechtsvertretung und anwaltliche Unterstützung zu bekommen. Es sind unglaublich viele Hürden zu nehmen, überhaupt dahin zukommen, dass im Namen des/ der Asylsuchende_n etwas dem EGMR vorgebracht wird. In der Auswirkung ist es nützlich, wenn irgendjemand dies getan hat, aber das Instrument der Durchsetzung stellt extrem hohe Hürden aus der Perspektive der Flüchtlinge dar.

Sie sagen, Menschenrechte sind auch ein soziales Konstrukt bzw. ein Glaubenssystem. Man könne Rechte auch unabhängig von definierten Rechten einfordern. Was meinen Sie damit? Wie kann eine Gesellschaft effektiven Rechtsschutz für Flüchtlinge bieten?

Gerade soziale Bewegungen, z.B. die Refugee-Proteste, sind ein gutes Beispiel dafür, was Menschenrechte sein können, abseits von dem, was man im Konkreten auf der kodifizierten Ebene hat. In Ungarn bzw. auf der Balkanroute wird das Recht auf Bewegung von den Flüchtlingen aktuell selbst eingefordert, in dem sie einfach gegangen sind. Sie sind zu Fuß marschiert, haben Grenzen überschritten, auch wenn dies vom Gesetzt her ganz klar verboten war. Und daraufhin muss natürlich eine

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Politik reagieren. Und wenn sich in weiterer Folge rechtliche Regelungen ändern, dann sind die Forderungen der Flüchtlinge entsprechend anerkannt worden. Das funktioniert natürlich nicht eins zu eins. Niemand fordert das Recht auf Bewegung ein und bekommt es dann sofort. Sondern die Forderung beeinflusst das, was nachher passiert. Viele soziale Bewegungen beziehen sich auf Menschenrechte als soziales Konstrukt. Unabhängig davon, ob diese in der Rechtsordnung des jeweiligen Staates verankert sind oder auf internationaler Ebene oder supranationaler Ebene das Recht für die jeweilige Person gültig ist.

Wenn Sie sich die Zukunft des Asylrechts ansehen: Was wären Ihrer Meinung nach Anknüpfpunkte, um einen effektiveren Menschenrechtsschutz für Asylsuchende und Flüchtlinge zu gewährleisten? Wo müssten wir aktiv werden?

Ganz allgemein erstmal: Das Rausnehmen des Asylrechts aus einer Migrationsrechtslogik ist ein wesentlicher Aspekt. Es müssen im Migrationsrecht andere Möglichkeiten geschaffen werden, damit man im Asylbereich stärker auf diese menschenrechtliche Komponente fokussieren kann. Was aber in der Praxis wichtig ist, sind die Bedeutungen, die dabei transportiert werden: Die Anerkennung von Asylsuchenden als Rechteinhaber*innen und den entsprechenden Umgang mit ihnen. Die Menschen werden im Asylverfahren gebrochen. Sie sind Bittsteller_innen, sie sind Opfer und müssen sich ständig als solche darstellen. Es sind entwürdigende Prozesse. Ich glaube, dass das ein erster Schritt ist, der auch relativ leicht umzusetzen ist, abseits von gesetzlichen Adaptionen, die natürlich auch stattfinden müssen. Wir müssen uns wieder mehr auf die Bedeutung der Menschenrechte zurück besinnen im Umgang mit den Menschen.

Was versprechen Sie sich von der Rechtssoziologie und speziell Ihrem Arbeitsthema für die Zukunft? Was wünschen Sie sich auf einer Praxisebene?

Ich glaube, es ist eine Illusion, dass die Praxis oder die Politik hier aktuell auf die Wissenschaft hört bzw. evidenzbasierte Politik stattfindet. Gerade im Asylbereich gibt es diverse Studien zu den Bedingungen in der Versorgung oder zu den Problemen des Asylverfahrens. Dass das aufgegriffen wird von der Politik ist faktisch nicht der Fall. Ich bin da jetzt nicht sehr hoffnungsfroh, dass da großartig etwas passiert, aber ich hoffe irgendwas zu einem Diskurs beitragen zu können, um in weiterer Folge den Prozess auch zu stärken. Aber, dass ich etwas mit meiner Arbeit bewirke? Nein.

... ein trauriges Schlusswort-

Ja, man arbeitet wissenschaftlich, aber es bleibt ein hochpolitisches und emotionales Thema. In wie weit werte ich? In wie weit politisiert man das Thema? Man muss sich der Verantwortung bewusst sein, dass das, was man sagt, das, was man forscht und das, was man schreibt, in unterschiedlichen Kontexten ausgelegt werden kann und so lange man sich dessen bewusst ist, hoffe ich, dass man zumindest nicht einen Diskurs oder eine Politik nährt, die man eigentlich nicht unterstützen will.

Vielen Dank für das Gespräch!

 

 

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Welchen Eindruck habe ich nun nach dem Gespräch mit Frau Fritsche? Ich studiere Rechtswissenschaft und lerne tagtäglich, dass Fälle lösbar sind und Entscheidungen mit praktischer Relevanz getroffen werden müssen. Habe ich mir vorschnell praktische Lösungsvorschläge für die Kluft zwischen nationalen Interessen und universellen Rechten im geltenden Asylrecht und seiner Umsetzung erhofft und erwartet, die Rechtssoziologie würde hier aus der Beobachtung der Rechtswirklichkeit heraus mit Verbesserungsvorschlägen aufwarten können, die von der Rechtsdogmatik nicht zu erwarten seien? Ja, vermutlich schon.

Die Vorträge und das anschließende Gespräch haben mir vor allem eines vor Augen geführt: Die Wechselwirkungen zwischen Recht und Gesellschaft - und damit auch zwischen Politik, Praxis, und Forschung – sind kompliziert. Das heißt – so verstehe ich nun auch Frau Fritsche-, dass kritische Forschungen zu Asylrecht wohl selten zu einer evidenzbasierteren Politik in diesem Feld führen, wohl aber zu einem Diskurs über Menschenrechte beitragen können, der eben diese Rechte über die geltenden rechtlichen Regelungen hinaus einforderbar und im besten Falle auch wirkungsvoll werden lässt. Was rechtssoziologische Forschung darüber hinaus bewirken kann oder soll, lässt sich an dieser Stelle wohl nicht beantworten.

Für mein weiteres Studium nehme ich die gewonnenen Eindrücke aus dem Interview mit Frau Fritsche und des Soziologiekongresses im Ganzen mit und versuche in Zukunft das Recht weniger als starr definiert und mehr als dynamisches Zusammenspiel vieler Faktoren zu sehen. Insofern ist mein persönliches Fazit kein trauriges sondern- im Einklang mit Frau Fritsche- ein sozialkonstruktivistisches!